Interview mit Maria Noichl, Mitglied des Europäischen Parlaments (SPD) und Teilnehmerin der 9. Ayinger Gespräche

Erschienen im Ayinger Newsletter Nr. 11 (März 2022)

 „Die Corona-Krise hat die Verwundbarkeit der Gesundheitssysteme aufgezeigt“

Die Corona-Pandemie hat sich sehr unterschiedlich auf die europäischen Sozialstaaten ausgewirkt. Hat sich das europäische Sozialmodell in der Krise bewährt, wo sehen Sie Reformbedarf im Hinblick auf das Ziel einer Sozialunion?

Die Corona-Krise hat die Verwundbarkeit der Gesundheitssysteme in den Mitgliedstaaten gezeigt. Gerade im Gesundheitssektor ist die EU von globalen Lieferketten und Zulieferern abhängig. Hier wurde deutlich, wie wichtig ein unabhängiges, soziales Europa ist. Unserem europäischen Sozialmodell wurden in der Krise einige Mängel aufgezeigt. Für mich ist klar, dass eine Sozialunion eine effektivere Reaktion auf die Corona-Pandemie ermöglicht hätte. Mit dem Aktionsplan für die europäische Säule sozialer Rechte versucht die EU durch neue konkrete Maßnahmen die 20 Grundsätze der Säule zu verwirklichen. Diesen Weg möchte ich unterstützend begleiten. Unser Ziel ist, nach wie vor, ein soziales Europa mit einheitlichen Standards für gute Arbeit zu schaffen.

 

Frauen gehören nach verbreiteter Auffassung zu den Verlierer:innen der Krise. Was muss sich jetzt konkret ändern und was kann die EU leisten?

Ja, das ist wahr. Frauen waren dadurch, dass sie, anders als Männer, überproportional in essenziellen Jobs vertreten sind, dem Virus zu Beginn der Pandemie verstärkt ausgeliefert. Und als Schulen und Kitas geschlossen wurden, waren es vorrangig Frauen, die sich um home schooling und die Versorgung der Kinder zu Hause gekümmert haben. Viele Frauen fanden sich daher verstärkt abends am Schreibtisch wieder, nachdem die Kinder im Bett und die Hausarbeit erledigt waren, um nachzuarbeiten. Gleichzeitig wurde dies in der Regel nicht gewürdigt, die Karrierechancen von Frauen haben sich daher in dieser Zeit verschlechtert. Schuld an all dem? Diskriminierung und Stereotype. Um diese abzubauen, muss die EU an mehreren Stellen ansetzen: Gewalt gegen Frauen durch eine Richtlinie zu ihrer Bekämpfung beenden, Entgeltgleichheit durch eine Richtlinie zur Lohntransparenz erreichen, Parität in Entscheidungspositionen durch eine EU-weite Quote für Frauen in Aufsichtsräten Wirklichkeit werden lassen. Das sind nur einige der Maßnahmen, die derzeit auf dem Tisch liegen. Und das bedeutet jeden Tag gegen Stereotype zu kämpfen, damit Frauen und Männer endlich sogenannte equal carer, equal earner werden, und gleichgestellt in allen Bereichen der Gesellschaft agieren - auch in Krisensituationen. 

 

Ein Thema, mit dem Sie sich auch befassen, ist die Entwicklung des ländlichen Raums. Viele Regionen in Europa fühlen sich angehängt, wenn es um Digitalisierung und gleichwertige Lebensverhältnisse geht. Braucht es eine europäische Daseinsvorsorge 2.0?

Die Digitalisierung hat durch die Corona-Pandemie einen richtigen Schub erlebt. Dieser hat die Nachfrage in ländlichen Regionen noch verstärkt. Eine analoge Daseinsvorsoge bleibt jedoch wichtig und ein essenzieller Teil der Versorgung der Menschen. Um alle Menschen optimal zu versorgen, sind daher hohe Investitionen und Infrastrukturmaßnahmen von Bedeutung. Dafür sollten auch verstärkt europäische Fördermittel in Zukunft zur Verfügung gestellt werden.

 

Vor welchen globalen Herausforderungen steht die EU nach der Krise?

Nach der Krise ist vor der Krise. Und eine Krise, die erst nach und nach Beachtung gefunden hat, aber dieses Jahrhundert vorherrschend bestimmen wird, ist die Klimakrise. Auf EU-Ebene soll der European Green Deal die Basis für eine kohlenstoffneutrale Wirtschaft legen. Aber wir wissen, dass in Zukunft noch eine Menge Instrumente nötig sein werden, die helfen, den Klimawandel aufzuhalten und da nachjustieren, wo wir es heute noch nicht schaffen ressourcenschonender, energieeffizienter oder vielleicht auch ganz einfach verzichtender zu agieren, als wir das bisher tun. Zudem ist es insgesamt von großer Bedeutung, dass die europäischen Mitgliedstaaten zukünftig geeinter und schneller auf dem internationalen Parkett reagieren können. Dafür müssen wir die Europäische Union weiter reformieren, um, beispielsweise auch mithilfe von Mehrheitsbeschlüssen, die Mitgliedstaaten zu einer gemeinsamen Linie führen zu können.

 

Eine weitere Herausforderung ist mir persönlich zudem wichtig zu nennen: Der Kampf gegen Bewegungen, die Frauenrechte und die Gleichstellung der Geschlechter in Frage stellen und torpedieren. Wir können sie außerhalb der EU beobachten, zum Beispiel in den USA. Aber sie verschaffen sich auch nach und nach mehr Einfluss bei den EU-Institutionen und in manchen Nicht-Mitgliedstaaten. Dabei ist die Gleichberechtigung der Geschlechter ein Grundwert der EU. Diese Tendenzen im Keim zu ersticken, die Grundrechte von Frauen zu sichern, auch das wird eine der kommenden Herausforderungen der EU sein.

 

Maria Noichl, MdEP, Pressefoto

Maria Noichl

ist Mitglied des Europäischen Parlaments (SPD)

Persönliche Website: https://maria-noichl.eu/

Daniel Dettling